Ein Schatzkästchen voll unterschätzter Literatur
Das Kabinett für sentimentale Trivialliteratur lädt ein zu einer
ganz und gar nicht trivialen Zeitreise.
Lotte Ravicini (1930–2021) war Journalistin, schrieb und las viel und sammelte Bücher – vor allem jene, über die der Literaturbetrieb die Nase rümpfte: Texte mit hohen Auflagen, mit unterhaltenden Geschichten, die «Heftliromane» – das, was abschätzig als Trivialliteratur bezeichnet wird.
Unsinnige Abstufung
Die Unterteilung in Hoch-, Unterhaltungs- und Trivialliteratur gibt es nur im deutschen Sprachraum. Sie sagt eigentlich mehr über die Arroganz des Literaturbetriebs aus als über die Qualität der Texte. Klar, die Texte der Trivialliteratur folgten einem gewissen Schema, wurden meist von Frauen gelesen und brauchten zwingend ein Happy End. Das heisst aber nicht, dass da nicht auch spannende, lebensnahe und raffiniert aufgebaute Geschichten möglich waren. Das lesende Publikum war auch vor 120 Jahren nicht blöd – und die Autoren der hohen Literatur verschmähten dessen Geld nicht. Friedrich Schiller meinte ausdrücklich, er müsse Dinge schreiben, an denen er etwas verdiene. Und Theodor Fontanes «Effi Briest» – ein Werk, das heute als absolut nicht trivial gilt – wurde zuerst als trivial-sentimentale Geschichte publiziert.
Die Texte erschienen oft als Fortsetzungsromane in verschiedenen Zeitschriften. Die Leute standen Schlange vor den Kiosken, wenn eine neue Ausgabe geliefert wurde. Gerade «Effi Briest» ist sehr typisch für dieses Genre. Der Roman ist ein Sittenbild des Wilhelminischen Zeitalters. Geschrieben für ein vornehmlich weibliches Publikum, zeigt er die Lebensweise jener Gesellschaft. Oft, aber nicht immer, wurden die Geschichten von Frauen geschrieben, die es im männlich dominierten Literaturbetrieb ohnehin schwer hatten und deren Arbeiten dann auch gleich abwertend beurteilt wurden.
Bildungsfunktion der Literatur
Weil die Groschenromane jeweils durch das ganze Haus und die ganze Dienstbotenschaft zirkulierten, dienten die Geschichten nicht nur der Unterhaltung. Die unteren Schichten lernten dadurch, wie sie sich in der hierarchischen Welt des deutschen Kaiserreichs zu kleiden und zu benehmen hatten, wie man ass, wie man gegenüber der Herrschaft und dem Bürgertum auftrat und, natürlich, wo es vielleicht ein Türchen geben könnte, um der eigenen gesellschaftlichen Kaste zu entfliehen. Die Romane sind damit ein Beispiel einer sehr langen Tradition, in der Bildung nicht durch Kurse und Lehrbücher, sondern mit spannenden Geschichten «en passant» vermittelt wurde.
Eine der wichtigsten Publikationen für solche Fortsetzungsromane war die Zeitschrift «Die Gartenlaube», die zwischen 1850 und 1920 erschien und von der das Kabinett für sentimentale Trivialliteratur in Solothurn fast alle Ausgaben besitzt. Wichtig ist für Peter Probst, den Stiftungsratspräsidenten, und Nina Allemann, die Tochter der Gründerin und Sammlerin Lotte Ravicini, die stilgerechte Präsentation der Werke. Die Eltern von Nina Allemann hatten dazu schon vor vielen Jahren ein Haus am Solothurner Klosterplatz gekauft und es speziell für die Bedürfnisse des Kabinetts eingerichtet, mit stilechten Möbeln aus der Hoch-Zeit dieses Literaturgenres, aber auch mit einem kleinen Lese- und Veranstaltungssaal ganz oben im Gebäude.
Wichtig war Lotte Ravicini immer auch die Mode. Sie schrieb für Modezeitschriften; Mode war aber auch in der Welt der Literatur, die sie sammelte, immer ein Thema. Die weibliche Leserschaft der Romane identifizierte sich, drückte sich aus, verwirklichte und befreite sich mit der Mode. Gerade in den ab 1900 erstarkenden Suffragetten-Bewegungen und nach dem Ersten Weltkrieg an den Partys und Protesten der «Roaring Twenties» war das wichtig.
Spezialgebiet Mode
Selbst wenn sich die Leserinnen die Kleider nicht leisten konnten oder sich nicht trauten, sie zu tragen, mussten sie auf dem Laufenden sein über neue Kleider, Kurzhaarfrisuren und den damals ultimativen Protest der Frauen, die Zigarette. Das Kabinett widmet deshalb der Mode einen ganzen Bereich mit Zeitschriften, Zeichnungen und Büchern. Gerade weil diese Form der Literatur immer etwas von oben herab behandelt wurde, fehlt es an Forschung. Das Kabinett vergibt deshalb alle drei Jahre den mit 5000 Franken dotierten Ravicini-Preis für Arbeiten zur Trivialliteratur. Das nächste Mal wird er 2024 verliehen – Abgabetermin ist der 31. August 2023. Das Feld ist weit offen, denn Literatur von Frauen oder für Frauen ist schlecht erforscht und dokumentiert, und es warten noch viele Überraschungen. Hinter der doppelt abwertenden Bezeichnung «sentimentale Trivialliteratur» verbergen sich hervorragende Schreiberinnen, grosse Auflagen, spannende Schicksale und oft sehr gute Unterhaltung. Damit ist die Literatur alles andere als trivial. Und das Sentimentale nehmen wir gerne mit dazu.
Text: Andreas Schwander
Bilder: Michel Lüthi, bilderwerft.ch