«Eine Wissenschaft für sich»

Bei Willi Wassmer zu Hause steht ein einzigartiges Bauwerk. In jahrelanger Arbeit hat er eine Dampflokomotive im Masstab 1:8 originalgetreu nachgebaut – inklusive grosser Gleisanlage.

Der Himmel über Derendingen ist bedeckt an diesem Tag im August. Willi Wassmer jedoch strahlt, als er mit seiner Gartenbahn entgegenfährt und seine Besucher zu einer Probefahrt einlädt. Los geht’s auf grüner Wiese, die Gleise gesäumt von Bäumen und Büschen. Mit leisem «Tschtsch» fährt die Dampflokomotive weiter über eine Brücke, durch einen Tunnel und über einen Teich, in dem zwei Enten schwimmen. Hinter alledem stecken viel Herzblut und unzählige Stunden Arbeit. Über mehrere Jahre hat Willi Wassmer die Eb 3/5 Nr. 5810 im Massstab 1:8 originalgetreu nachgebaut.

Hunderte Einzelteile

Er sei eigentlich kein Bähnler gewesen, sagt der 72-Jährige. Bei einem Ausflug ins Verkehrshaus Luzern vor 35 Jahren änderte sich das jedoch schlagartig. Sein Sohn wollte eine Runde auf einer dampfbetriebenen Gartenbahn fahren. Als Willi Wassmer ihm dabei zuschaute, war der gelernte Mechaniker sofort fasziniert von der Lokomotive, die ganz ohne Strom lief. «Es kribbelte richtig in mir, ich wollte mehr über ihre Funktionsweise erfahren.» Wieder zu Hause liess ihn die Idee, selber eine Lokomotive zu bauen, nicht mehr los. Nach ausgiebiger Suche nach einem geeigneten Modell entschied er sich schliesslich für die Eb 3/5 Nr. 5810, auch Habersack genannt. Auf Nachfrage bei der Lokomotiv- und Maschinenfabrik in Winterthur erhielt er einige Originalbaupläne. Mit diesen begann er nun, die hunderten Einzelteile der Lokomotive im Massstab 1:8 nachzuzeichnen. Einen Monat lang arbeitete er jeden Tag daran. «Ich führte damals eine Firma für Werkzeugbau. Irgendwann musste ich die Pläne weglegen und mich wieder um meine Kunden kümmern»,
sagt er schmunzelnd.

Die Arbeit ging weiter

Fast 30 Jahre später, die Firma hatte Willi Wassmer mittlerweile an seinen Nachfolger übergeben, nahm er die Arbeit an der Lok wieder auf. Er zeichnete, fräste, drehte und schweisste die Teile und schraubte sie zusammen. «Es ist eine Wissenschaft für sich», sagt er beim Erklären des ausgeklügelten Antriebssystems, das gleich wie das Original funktioniert. Um die Maschine in Gang zu setzen, verfeuert er Steinkohle in der Feuerbüchse und erhitzt damit Wasser im Dampfkessel. Der Dampf wird anschliessend geregelt zu den Zylindern geleitet, wo er sich ausdehnt und dabei die Kolben bewegt. Die im Dampf gespeicherte Wärmeenergie wird in mechanische Energie umgewandelt, und die Bewegungen der Kolben werden über die Treibstangen auf die Treibräder übertragen.

Auf die Lokomotive folgte die Anlage

Die Bedienung einer dampfbetriebenen Gartenbahn ist gar nicht so einfach. Willi Wassmer muss ständig Kohle nachlegen, den Wasserstand kontrollieren und wenn nötig Wasser einspeisen. Die Luftzufuhr fürs Feuer und der Dampfdruck müssen während der Fahrt ebenfalls manuell geregelt werden. Zu Beginn seines Projekts war für ihn Nebensache, ob die Lokomotive später einmal fahren wird oder nicht. «Der Bau mit der komplexen Technik machte mir einfach Spass», sagt er. «Als ich schliesslich feststellte, dass die Lok tatsächlich funktioniert, blickte ich hinter unserem Haus auf die Schafweide und dachte mir: «Hier hätten doch gut Schienen Platz». Also ging die Planung nach dem Lokomotivbau gleich weiter. In den kommenden drei Jahren baute Willi Wassmer eine grosse Anlage mit 500 Metern Bahngleis der Spurweite 7 ¼". «Ich bestellte jeweils eine Tonne Stahl aufs Mal, die ich zu Schienen verarbeitete.» Für die Trassees schüttete er 750 Kubikmeter Kies auf. Wie bereits bei der Lokomotive wurde er auch beim Bau der Gleisanlage von Familie und Freunden unterstützt.

Gruppen zu Besuch

Seit 2015 ist die Anlage nun in Betrieb. Wassmers begrüssen ab und zu Gruppen für Besichtigungen und Fahrten mit der Gartenbahn. «Die Begeisterung der Erwachsenen ist manchmal sogar grösser als die der Kinder», erzählt Elisabeth Wassmer. Sie sorgt jeweils für das leibliche Wohl der Besucher. Die Arbeit an Willi Wassmers Gartenbahn geht noch weiter. Damit er auch Rollstuhlfahrer auf seiner Bahn mitnehmen kann, hat der Derendinger letztes Jahr sogar einen barrierefreien Wagen gebaut, und ein zweiter ist bereits in Planung. Die Ideen werden ihm wohl nicht so schnell ausgehen.


Text: Barbara Graber 
Fotos: Michel Lüthi, bilderwerft.ch